Altena. Es war ein kurzweiliger Ritt durch 190 Jahre Firmengeschichte, davon beinahe ein halbes Jahrhundert miterlebt und mitgestaltet, auf die der Altenaer Unternehmer Thomas Selter die Gäste des Kulturrings am Dienstagabend (15. Oktober) mitnahm. Ein neues, bislang unbekanntes Format in den Kulturring-Veranstaltungen feierte mit Selters Zeitreise in der Burg Holtzbrinck seine Premiere.
Seit 1826 stellt die Gustav Selter GmbH & Co. KG in Altena Häkel- und später auch Stricknadeln her. Thomas Selter ist vor 48 Jahren – mit gerade 23 Jahren – in das Familienunternehmen eingestiegen, als Geschäftsführer und Inhaber. Glück habe er damit gehabt, stellt der Unternehmer im Vergleich zu anderen Übergängen in Familienunternehmen fest und scherzt: „Im Sauerland bekommt der Junior doch sonst erst mit 50 Jahren die Scheckvollmacht“. Was seit dem Einstieg folgte, sind die Aufs und Abs der Branche und die Neuerungen, die der technische Fortschritt nicht nur den verarbeitenden Betrieben brachte, und die Selter auf dem Chefsessel mitmacht und in seinem Unternehmen mitgestaltet (LOKALSTIMME.DE berichtete).
Über „Veränderungen“, den Wandel in der Industrie, die die heimische Wirtschaft prägt, sollte Selter auf Einladung des Kulturrings berichten. „Bin ich da überhaupt der Richtige?“, wirft Selter als Frage auf. Er habe nachgerechnet: „Rund 130.000 Stunden arbeite ich in der gleichen Firma, in der gleichen Aufgabe am gleichen Ort.“ Diese Zahlen sprächen wohl mehr für Kontinuität statt für Wandel.
Anfänge liegen im Keller
Aber vielleicht gerade weil Selter diese drei Konstanten hat – gleiche Firma, gleiche Aufgabe, gleicher Ort – kann er die Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt anschaulich schildern.
Gewachsen ist das Unternehmen, einst anno 1829 gegründet im Keller des ehemaligen Hauses Lindenblatt. Ein Eckhaus, das dort stand, wo sich heute neben dem Lutherhaus der Brunnenplatz anschließt, und das im Zuge der Stadtsanierung abgebrochen wurde: Die Gebäudefront ragte zu weit in die Kirchstraße. Da war die Produktion von Häkel- und Stricknadeln, die ständig wuchs, allerdings längst umgezogen. Zunächst ins Altenaer Industrietal entlang der Nette, an die Nettestraße 91. Bis neue, größere Flächen benötigt wurden. „Da haben wir die ehemaligen Gebäude der Firma Möhling in Dahle gekauft“, berichtet Selter. Das sollte an Platz erst einmal reichen. Inzwischen sind für Vertrieb und Verwaltung neue Gebäude schräg gegenüber hinzugekommen.
Blogger lassen Nachfrage durch die Decke schießen
Da ist die gestiegene Produktion, auch Dank Automatisierung. Von „300 bis 500 Rundstricknadel pro Woche rauf bis auf 15.000 Stück. Am Tag“. Und die neuen Vertriebswege. Stichwort: Blogger, also Schreiber im Internet, die als Influencer, also als Ratgeber, wirken. Zu einem Blogger-Meeting („Wir wussten nicht, wie man es schreibt, aber wir haben es gemacht“) hat das Unternehmen am 21. September 2017 eingeladen. Und Bloggern seine neue Rundstricknadel für Socken vorgestellt, die mit drei statt bislang fünf Nadeln auskommt: „Crazy Addi Trio“. Was dann passierte, war auch verrückt: 23 Blogger kommen und sehen das neue Produkt. „Nach sechs Wochen sind wir in Aufträgen erstickt“, blickt Selter auf eine außergewöhnlichen Absatzboom zurück; die Nachfrage schießt durch die Decke. Die Folge: bis zu 30 Wochen Lieferzeit. Der Betrieb in Dahle produziert plötzlich in drei Schichten, stockt das Personal auf, kauft zusätzliche Maschinen, um die Nachfrage zu bedienen. Veränderungen in kürzester Zeit, auf relativ kleinem Raum.
Es muss sich gelohnt haben. „Wie schaffen sie den gleichen Profit, wenn das neue Produkt nur drei statt fünf Nadeln hat?“, hinterfragt Ingeborg Becker als aufmerksame Zuhörerin die betriebswirtschaftliche Rechnung des Unternehmers, der die Antwort nicht schuldig bleibt: „Weil wir die Neuentwicklung mit drei Nadeln teurer verkaufen, als das alte Produkt mit fünf.“
Absatzstrukturen sterben
Die neuen Vertriebswege über Internet und Online-Versandhandel haben im Wandel andere Absatzstrukturen sterben lassen. „Wir haben Hertie und Horten beliefert“, erinnert Selter. Kaufhäuser, die längst Geschichte sind. Das wäre dem Nadelhersteller Selter selbst beinahe in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre passiert. „Das war ein mördersicher Absturz“, blickt Selter zurück; der Umsatz geht um fast 50 Prozent zurück. Für ein Familienunternehmen im produzierenden Sektor eigentlich fatal.
Dem Unternehmen gelingt es, mit drastischem Personalabbau und dem Ausweichen auf die Herstellung von Werbeartikeln die Zeit zu überstehen. Und die Banken bleiben gewogen. Selter nachdenklich: „Mit heutigen Bedingungen der Banken hätten wir wohl nicht überlebt.“ So schafft es das Unternehmen, bis etwa ein Jahrzehnt später, in den 1990er-Jahren, das Stricken wiederentdeckt wird. 13 Konkurrenten in Europa haben diese Durststrecke nicht überstanden, so Selter; darunter auch die „Imra“ (Johann Moritz Rump Altena), die Stricknadel in der Rahmede fertigte.
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„Veränderungen sind risikoreich, kosten Geld, aber wenn man sich auf die Chancen konzentriert, dann klappt es meistens“, ist das Resümee, das Thomas Selter den gut 25 Zuhörerinnen und Zuhörern mit auf den Weg gibt. „Ich bin neugierig, was alles noch kommt, und bleibe neugierig“, kündigt der Unternehmer als Strategie an. Immerhin startet in seinem Unternehmen, nach vierjährigem Vorlauf, noch in diesem Jahr eine neue Firmensoftware, ein Programm, das den kompletten Betrieb steuert. Wie ein Nervensystem. Wieder ein Meilenstein in der Firmengeschichte.
Mit fast genau einer Stunde hat Thomas Selter am Ende einen guten Zeitrahmen für seine persönliche Industriegeschichte gefunden. Das Publikum spendet gerne Beifall. Wenn es nach Wolfgang Noack, Geschäftsführer des Kulturrings, geht, sollen der Premiere weitere Abend rund um die Wirtschaftsgeschichte folgen.