Altena/Hagen. Im Missbrauchsprozess gegen einen 59-jährigen Grundschullehrer hat am Mittwoch (29. Mai) ein weiteres Opfer den Angeklagten schwer belastet.
Der vierte Prozesstag am Landgericht Hagen begann mit 15-minütiger Verspätung. Der angeklagte Grundschullehrer ließ das Gericht und die Zuschauer warten und versteckte bei seinem Auftritt vor vollen Reihen im Saal sein Gesicht wieder hinter einer Sonnenbrille und einer FFP2-Maske. Das öffentliche Interesse an dem Prozess ist ungebrochen groß.
Dabei sind die Zeugenaussagen nicht nur für die Opfer eine Belastung. Während eine weitere Zeugin von den Vorfällen berichtete, verließ ein Mann entsetzt und kopfschüttelnd den Saal. Zu verstörend waren wohl die Worte, die aus dem Mund der mittlerweile jungen Frau zu hören waren.
Drei Jahre lang war der Angeklagte ihr Klassenlehrer. Direkt von Beginn ihrer Grundschulzeit an musste das junge Mädchen schweren sexuellen Missbrauch erfahren. „Ich wusste damals ja nicht, ob das zur Schule dazugehört“, sagte das Opfer vor Gericht. Immer wieder musste sie ihre Aussage unter Tränen unterbrechen, so sehr belasten sie die Erinnerungen, die sie über Jahre erfolgreich verdrängen konnte.
Nach einer Enttäuschung in einer Liebesbeziehung soll aber alles wieder da gewesen sein, woraufhin sie über 10 Jahre später zur Polizei gegangen sei und Anzeige erstattet habe über all das, was ihr in ihrer Grundschulzeit widerfahren war. In mehreren Fällen soll sie während des Unterrichts zur Toilette geschickt worden sein. Auf dem Weg zurück in den Klassenraum soll der Angeklagte sie auf dem Flur abgefangen und unter diversen Vorwänden mit auf den Dachboden der Schule genommen haben.
Der Lehrer soll das Mädchen dort zunächst gezwungen haben, Hose, Unterwäsche und Schuhe auszuziehen und sich auf ein Kissen zu legen. An das, was dann geschah, kann sich die Frau heute nicht mehr genau erinnern. Der Lehrer soll sie aber im Genitalbereich gestreichelt haben. Als sie auf einem Stuhl saß, soll es zudem auf dem Dachboden zum Oralverkehr gekommen sein. Sie erinnert sich an gleichartige Vorfälle, die während des Sportunterrichts in der Lehrerumkleide passiert sein sollen.
Bis heute verfolgen sie die Erinnerungen. „Ich werde nachts wach, denke viel nach“, sagt sie. Rund eine Stunde saß sie im Zeugenstand, musste sich dabei den sich ständig wiederholenden und für sie augenscheinlich unangenehmen Fragen des Verteidigers stellen, der sie damit regelrecht bombardierte.
Schulleiter: „Wir waren alle sehr verstört“
Eine Frage wurde hingegen am Mittwoch nur kurz thematisiert: Wollte die Schulleitung die Anschuldigungen verschweigen? Dieser Vorwurf soll aus einem anonymen Brief an die Nebenklage-Anwältin Julia Kusztelak hervorgehen. Der Rektor wies ihn am Mittwoch vehement zurück. Die Ermittler seien beispielsweise zur Durchsuchung alle in Zivil gekommen, um zunächst einmal Unruhe an der Schulen zu vermeiden.
Als der Rektor die Schulleitung übernahm, hörte er zwar von einer angeblichen Suspendierung des Lehrers, in der Personalakte seien aber keine konkreten Hinweise auf sexuellen Missbrauch gewesen. Auf seine Nachfrage bei der Bezirksregierung soll auch nichts gegen den Lehrer vorgelegen haben. Direkt angesprochen habe er den Grundschullehrer nie auf die Vorwürfe, er habe aber einen Brief von ihm erhalten, in dem der Lehrer schrieb: „Wie soll man sich denn daran erinnern?“: Und dass er sich „sehr belastet“ fühle. Die Ermittler hätten den Brief seinerzeit nicht sehen wollen, die Bezirksregierung hätte aber Kenntnis über den Inhalt gehabt.
Von neuen Ermittlungen hörte der Rektor nach seinen Angaben erst im Januar 2020. Damals, und so soll es auch aus Unterlagen hervorgehen, sei er davon ausgegangen, dass es sich um alte Anschuldigungen (aus den Jahren 2005 bis 2009 sowie sogar schon 1999 bis 2002) handeln solle.
Nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle von Lüdge hatte bekanntlich NRW-Innenminister Herbert Reul angekündigt, dass auch alte Fälle neu aufgerollt und näher untersucht werden. Eine Information an Eltern gab es nach den neuen Durchsuchungen in Altena nicht, hieß es. „Es gilt die Unschuldsvermutung“, sagt der Schulleiter als Begründung.
Dennoch soll es an der Schule direkte Konsequenzen gegeben haben. Lehrer sollten während des Unterrichts nicht mehr allein in den Klassen unterrichten, eine „Doppelbesetzung“ wurde eingeführt. Dies sei aber, auch aufgrund von Personalengpässen, nicht immer möglich gewesen, so dass auch weiterhin stundenweise nur ein Lehrer anwesend war. Das Kollegium sei nach den Durchsuchungen und Vorwürfen, die gegen den Angeklagten im Raum stehen, „sehr verstört“ gewesen. Ein weiterer Lehrer, ein guter Freund des Angeklagten, ist seitdem dienstunfähig. Aktuell sind Schulpsychologen an der Schule im Einsatz.
Der Prozess wird am 19. Juni um 12 Uhr fortgesetzt.