Altena. Weite Teile der Altenaer Innenstadt stehen unter Wasser. Ein zusammenhängendes, befahrbares Straßennetz gibt es nicht mehr. Sturz- und Dauerregen haben am Mittwoch (14. Juli) aus Bächen und Siepen reißende Ströme gemacht, die sich ihren Weg durch die Stadt bahnen, dabei durch Häuser fließen, Keller, Garagen und Fabriken fluten, Schlamm und Geröll hinterlassen – und einem 46-jährigen Feuerwehrmann im Einsatz das Leben kosten. Ausnahmezustand in Altena.
Die Nacht, als der Regen kommt. Zwar mit Ansage. Aber Unwetterwarnungen hat es in den zurückliegenden Wochen dieses Sommers, der mehr einer warmen Regenzeit gleicht, reichlich gegeben. Altena ist stets verschont geblieben. Doch dieses Mal, an diesem frühen 14. Juli 2021 ist es anders: Die Burgstadt trifft es mit voller Wucht. Der wolkenverhangene Nachthimmel öffnet die Schleusen und will sie bis zum nächsten Abend nicht wieder schließen. Sturz- und Dauerregen. Ungekannte Mengen. Mit Folgen, wie sie die Stadt seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Vielleicht ist es sogar ein Jahrhundertereignis.
„Die Stadt säuft ab.“ Der Blick von Michael Sonntag, erfahrener und lange Hochwasser-erprobter Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamtes, ist leer, als er den Satz am Nachmittag sagt. Auch keine Panik in der Stimme. Eher Resignation. Braune Wassermassen strömen da aus der Nette abwärts über den Markaner, überspülen den Busbahnhof, brechen sich am Pavillon des Bürgerbüros und teilen sich: Ein Strom fließt auf die Fußgängerzone zu und in die Lennestraße hinein – zum ersten Mal seit Jahrzehnten steht auch sie unter Wasser, zum Entsetzen der Anwohner.
Bachstraße wird zur Flussstraße
Der andere Strom nimmt die Kurve und flutet die Linscheidstraße. Wohlgemerkt: Das Wasser kommt nicht aus der Lenne, die über die Ufer tritt. Sondern es kommt aus der Nette herabgeschossen, reißt Mülltonnen und Äste mit. Wäre die Situation nicht so ernst, es ließe sich sagen, dass die Bachstraße ihrem Namen alle Ehre macht: Sie ist kein Bach-, sie ist sogar schon eher eine Flussstraße.
Ein Paketdienstfahrer will sich dennoch nicht aufhalten lassen und versucht mit seinem Sprinter gegen die Strömung vorwärts in die Nette zu kommen. Trotz Absperrung. Eine schlechte Idee. Er scheitert. Passanten eilen schließlich herbei und schieben das Auto dahin zurück auf den Busbahnhof, wo das Wasser noch nicht zentimetertief steht. „Dem ist das Wasser in den Auspuff gelaufen“, meint vielsagend einer der Helfer, der bei der Autoschiebung klitschnass geworden ist. Das Lieferfahrzeug mit dem angedeuteten Grinsen des Firmenlogos eines bekannten Onlineversands bleibt verloren am Busbahnhof stehen.
Anstoß fürs Wasser mit der Radladerschaufel
Solche und ähnliche Szenen spielen sich an diesem 14. Juli 2021 an etlichen Stellen im Altenaer Stadtgebiet ab.
Am Brachtenbecker Weg, der seit dem frühen Morgen zwischen Bauhof und Kreuzung mit der Hagener Straße/B236 mehr einer Gracht als eine Straße gleicht, schiebt Florim Iberhysaj, Garten- und Landschaftsbauer, der seinen Betrieb oberhalb des Bauhofs hat, unaufhörlich mit der Schaufel seines Radladers das schmutzig-braune Wasser und Unmengen an Geröll und Steinen die Straße hinab. Und trotzdem sinkt der Wasserstand nicht, obwohl sich Welle für Welle des angeschobenen Wassers die Brachtenbecke hinab auf die Bundesstraße wälzt. „Es wird einfach nicht weniger…“, sagt Iberhysaj – und gibt dennoch nicht auf. Aber aus dem Kammersiepen strömt unaufhörlich Nachschub.
Autos werden wie Spielzeuge weggespült
Auf der Lüdenscheider Straße sammeln sich ebenfalls Wassermassen und strömen auf die Bahnhofstraße zu. Von der Kleffstraße läuft das Wasser durch die Werkseinfahrt auf das Gelände von VDM Metals. An der Rahmedestraße werden Autos wie Spielzeuge davon gespült. Im Kleff kämpfen Anwohner darum, die Häuser vor den Wassermassen, die die Wixbergstraße herunterpoltern, zu schützen. Werdohler Straße, Buchholzstraße, Grenningloher Weg, Dahler Straße – überall das gleiche Bild: Wasser. Überall Wasser – dort, wo es nicht hingehört. Und vielfach sind alle alle Bemühungen, sich dem Wasser und seiner Naturgewalt entgegenzustemmen, vergeblich.
„Ich wohne oberhalb des alten Krankenhauses. Wie komme ich jetzt dahin?“ Eine Antwort auf die Frage eines jungen Mannes in einem Kleinwagen auf der Linscheidstraße ist gar nicht so einfach. Lenneuferstraße: dicht. Untere Nette: dicht. Lüdenscheider Straße: dicht.
Der Nachhauseweg wird für etliche zum Geduldsspiel oder zum Fußmarsch durch den Regen. Wie auch für eine Mitarbeiterin eines mobilen Pflegedienstes, die pitschnass zu Fuß ihren Dienst absolviert. „Alle Mitarbeiter sind im Einsatz, alle gehen zu Fuß – mit dem Auto kommt ja niemand mehr durch“, sagt sie nüchtern achselzuckend. „Und die Patienten warten schließlich auf uns. Wir können nicht sagen, wegen Hochwasser gibt es heute keine Insulinspritze mehr…“
Es stinkt nach Öl, Diesel und Abfällen
Am Abend kreisen zwei Hubschrauber über der Stadt: ein Rettungshubschrauber der ADAC-Luftrettung und der Polizei-Hubschrauber „Hummel“. Sie sehen die Ausmaße der Naturgewalt in der Burgstadt aus der Vogelperspektive: Die Lenne hat ihr Bett längst verlassen, sich breit gemacht und auch die Linscheidstraße bis an die Stadtwerke überflutet; der Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude läuft voll – die dort immer noch geparkten Autos auch. Der Lennepegel liegt weit jenseits der 4,30 Meter. Um Mitternacht, als dieser 14. Juli 2021 beginnt, war es gerade einmal ein Meter.
Über vielen Stellen im Stadtgebiet liegt ein übler Geruch: ein Gemisch aus Öl- und Dieselgeruch; vielfach glitzert ein Ölfilm auf den Wassern der Straßen. Mülltonnen sind weggespült worden; ihr Inhalt treibt im Wasser.
Verfärbungen im Trinkwasser aus Springer Quelle
In Teilen von Dahle und Evingsen kommt es zu Verfärbungen beim Trinkwasser. Stadtwerke-Chef Hendrik Voß gibt am Abend aber vorsichtig Entwarnung: Es seien Eintrübungen in der Springer Quelle aufgetreten. – „Die Stadtwerke gehen davon aus, dass es sich um oberflächlich eingetragene Schwebstoffe handelt, die kein Risiko für die Gesundheit darstellen“, heißt es.
Als sich langsam wieder die Dunkelheit über die Burgstadt legt, kehren auch die vielen aufrichtig Besorgten, aber auch die ersten Hochwassertouristen, die sich selbst ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machen, zurück in ihre Wohnungen. Der 14. Juli 2021 geht zu Ende. Ein Tag, der der Burgstadt eine Naturkatastrophe gebracht hat und einem Feuerwehrmann das Leben kostete. Ein Jahrhundertereignis – das keiner braucht.